Digitale Technologien können Menschen mit Behinderungen wertvolle Dienste leisten – vorausgesetzt, sie sind hindernisfrei gestaltet. Das Knowhow dafür stellt die Organisation „Zugang für alle“ zur Verfügung[1].
SBB-App statt Kursbuch, Online-Banking statt Einzahlungsschein, elektronische Lernplattform statt Skripts in Papierform. Bedeutet die Digitalisierung für Sehbehinderte Chance oder Hürde?
*Andreas Uebelbacher: Beides. Einerseits eröffnen digitale Technologien Sehbehinderten zahlreiche neue Möglichkeiten im Beruf, in der Freizeit und generell für mehr Unabhängigkeit im Alltag. Noch vor wenigen Jahren arbeiteten Blinde typischerweise als Korbflechter, Klavierstimmer oder Masseure. Heute können sie studieren oder zahlreiche Berufslehren absolvieren. Anderseits birgt die digitale Welt auch viele Hindernisse.
Zum Beispiel?
Leider sind viele Webseiten, mobile Apps und andere digitale Kommunikationskanäle nicht barrierefrei gestaltet. Blinde benutzen einen Screenreader, der ihnen die Schrift auf dem Bildschirm in rasantem Tempo vorliest. Doch Dokumente und Webseiten, die nicht gut strukturiert sind, sind für sie extrem mühsam oder sogar komplett unmöglich zu bedienen.
Worauf muss man beim Verfassen achten?
Für Menschen, die noch einen Sehrest haben, sind deutliche Kontraste zwischen Schrift und Hintergrund sowie eine geeignete Farbgebung wichtig. Davon profitieren alle Nutzerinnen und Nutzer – besonders auf mobilen Geräten und bei suboptimalen Lichtverhältnissen. Blinde dagegen sind auf eine gute Strukturierung angewiesen. Beim Erstellen eines Word-Dokuments zum Beispiel sollte man Inhaltsverzeichnis, Überschriften und Abschnitte nicht von Hand gestalten, sondern immer die Formatvorlage verwenden. Bei Webseiten muss die semantische Struktur im HTML-Code stimmen, damit sich blinde Menschen schnell einen Überblick verschaffen können. Visuelle Elemente wie Boxen oder Farben, die Zusammengehöriges kennzeichnen, müssen ebenfalls über die semantische Struktur erkennbar werden. Bilder, Infografiken oder eingebettete Videos sollten eine Text-Alternative aufweisen.
Wie erkennt man, ob die Kriterien eingehalten werden?
Während man ungenügende Kontraste von Auge gut wahrnehmen kann, ist es bei anderen Aspekten der Barrierefreiheit schwieriger. Man muss die HTML-Struktur anschauen oder die Darstellung mit dem Screenreader testen. Unsere Aufgabe ist es, Informatiker und Webdesigner bei der Gestaltung barrierefreier Technologien zu unterstützen.
Liegt dabei das Augenmerk hauptsächlich auf der Sehbehinderung?
Grundsätzlich nicht. Wir bieten Dienstleistungen für alle Behinderungsformen an. Damit ein Angebot als barrierefrei zertifiziert werden kann, muss es auch für Menschen mit auditiven, motorischen oder kognitiven Einschränkungen zugänglich sein. Weil Internet und Smartphone aber stark visuell ausgerichtet sind, ist der Handlungsbedarf im Bereich Sehbehinderung am grössten.
Was für Bedürfnisse haben Menschen mit anderen Beeinträchtigungen?
Für Hörbehinderte müssen informative Tonspuren verschriftlicht werden, bei Videos zum Beispiel mit Untertiteln. Und Menschen mit motorischen Einschränkungen müssen Webseiten vollständig mit der Tastatur bedienen können. Denn wenn jemand zum Beispiel stark zittert oder die Hand nicht bewegen kann, wird er die Maus nicht bedienen können.
Das tönt nach einem enormen Aufwand. Ist der Anspruch nicht etwas übertrieben, dass jede Technologie für Menschen mit jeder erdenklichen Behinderung zugänglich sein muss?
Wenn man von Anfang an daran denkt, ist der Aufwand gar nicht so riesig. Man sollte auch bedenken, dass mit der alternden Gesellschaft immer mehr Menschen von einer Seh-, Hör- oder Mobilitätsbehinderung betroffen sind. Viele Organisationen machen ihr digitales Angebot diesen Gruppen nicht nur aus karitativen Gründen zugänglich, sondern ebenso aus wirtschaftlichen: Sie haben erkannt, dass es sich um potenzielle Kunden handelt.
Wie weit sind wir in der Schweiz mit der Barrierefreiheit im digitalen Bereich?
Die Stiftung Zugang für alle macht regelmässig Bestandsaufnahmen unter bedeutenden Schweizer Internetangeboten. Im Jahr 2016 haben wir letztmals 100 Webseiten überprüft. Gut abgeschnitten hat der Bund, der diesbezüglich klare Vorgaben macht. Auch gewisse bundesnahe Portale wie etwa die SBB sind heute bereits weitgehend behindertengerecht. Bei den offiziellen Seiten der Kantone und Gemeinden war das Resultat aber durchzogen. Auch Onlineshops vergessen die Behinderten häufig. Dabei wäre es gerade für Menschen mit eingeschränkter Sehkraft oder Mobilität eine enorme Erleichterung, wenn sie über das Internet einkaufen könnten statt ins Geschäft gehen zu müssen. Hingegen rüsten internationale Konzerne wie etwa Airlines auf Druck der USA und anderer Staaten ihre Webseiten kontinuierlich nach.
Wie sieht es bei den Bildungsinstitutionen aus?
Wir haben die Webportale von 20 Hochschulen unter die Lupe genommen. Nur 8 davon haben einigermassen gut abgeschnitten. Bei den anderen können sich Menschen mit Behinderung nicht gut über die Angebote informieren. Dennoch ist die Sensibilität für ihre Bedürfnisse gestiegen. Will eine behinderte Person ein Studium oder eine Weiterbildung machen, kommen die Zuständigen ihr häufig entgegen und rüsten gezielt nach.
Zugang für alle – Accès pour tous – Accesso per tutti – Access for all
Andreas Uebelbacher ist Arbeits- und Organisationspsychologe und seit 2012 Leiter Dienstleistungen von «Zugang für alle». Die Stiftung wurde im Jahr 2000 von einem blinden Informatiker gegründet, um die behindertengerechte Gestaltung der immer stärker präsenteren Technik voranzutreiben. Mit ihren 8 Mitarbeitenden, von denen 5 sehbehindert sind, begleitet sie Firmen und andere Organisationen dabei, ihre digitalen Angebote barrierefrei zu gestalten und zertifiziert diese gemäss internationalen Standards. Zudem bietet sie Weiterbildungen für Informatiker und andere Berufsgruppen an. Viele Anleitungen sind auf der Webseite frei zugänglich. Die Nonprofit-Organisation ist selbsttragend und hat ihre Geschäftsstelle in Zürich.