Für blinde oder sehbehinderte Menschen ist es schwierig, eine Stelle auf dem freien Markt zu finden. Vivien Stadler hat es geschafft. Nun will sie sich weiterentwickeln.
Im ersten Moment merkt man Vivien Stadler ihre starke Sehbehinderung kaum an. Die 22-Jährige bewegt sich selbstständig, ohne Hilfsmittel, im Bürogebäude des Kunsthauses Zürich. Doch ein Blick auf ihren Bildschirm lässt erahnen, wie schwach ihre Augen sind: Die Buchstaben sind auf etwa zwei Zentimeter gross. Und wenn Stadler einen Text auf Papier lesen muss, vergrössert sie ihn mit der Kamera ihres Smartphones.
Die junge Frau aus Thalheim bei Winterthur erlitt bereits im Kindergartenalter eine Netzhautablösung, worauf sich die Sehkraft zusehendes verschlechterte. Mittlerweile ist sie auf dem rechten Auge ganz erblindet, während sie mit dem linken noch etwa 5 Prozent sieht. Die Ausbildung zur Betriebsinformatikerin hat sie in der Band Genossenschaft in Bern gemacht, welche Menschen mit einer Beeinträchtigung in den Arbeitsmarkt integriert. Nach dem Abschluss hat sie auf dem freien
Markt eine Stelle gesucht. In ihren rund 50 Bewerbungen hat sie ihre Sehbehinderung stets erwähnt.
„Meistens erhielt ich Absagen“, erzählt Stadler. Die Begründung war stets, man habe keine Ressourcen, sie speziell zu betreuen. „Die meisten Firmen haben nicht einmal nachgefragt, was meine Einschränkung im Arbeitsalltag bedeutet.“
Selbstständigkeit imponierte
Auf Interesse stiess ihre Bewerbung schliesslich in der Informatik-Abteilung des Kunsthauses. „Vivien hatte das Rüstzeug und gute Referenzen“, sagt ihr Vorgesetzter Markus Spiri. Deshalb habe man
beschlossen, sie zu einem Gespräch einzuladen. „Es imponierte uns, wie erfinderisch sie ist und wie gut sie ihre Einschränkung bewältigen kann.“ Nach einem Probehalbtag erhielt Stadler vor zwei Jahren die 80-Prozent-Stelle, wo sie vor allem für den Support der Kunsthaus-Mitarbeitenden
zuständig ist. Sie erklärt ihnen zum Beispiel, wie sie die Eintritts- und Shopkasse bedienen müssen, und installiert Drucker oder WLAN-Sender. „Ich schätze den Kontakt zu den Leuten“, sagt die fröhliche Frau. Tagein, tagaus nur im Informatikraum vor dem Bildschirm zu sitzen, würde ihr schnell zu eintönig.
Sie liess sich nicht abwimmeln
Weil sie gerne noch intensiver mit Menschen arbeiten möchte, wird Stadler nun bald weiterziehen.
Sie hat sie sich zum Ziel gesetzt, Soziale Arbeit zu studieren. Zuvor steht aber noch die Berufsmaturität an. An der Schule in Winterthur empfahl man ihr, dafür eine spezielle Institution für Menschen mit Behinderung zu besuchen. „Doch ich liess mich nicht abwimmeln“, lacht Stadler. An
der regulären Schule werde sie besser aufs Studium vorbereitet, glaubt sie – überzeugt, dass sie dem Unterricht wird folgen können. Die Lehrpersonen werden ihr die Unterlagen elektronisch zur Verfügung stellen müssen. Und für Prüfungen wird sie im Rahmen des Nachteilsausgleichs etwas
mehr Zeit erhalten.
Auch in der Schule wird sie mit ihrem speziellen Computer-Programm arbeiten, das Schriften vergrössern, Kontraste verstärken oder Texte vorlesen kann. Für die Kosten von gut 3000 Franken kam die IV auf. In der Informatik des Kunsthauses kann Vivien Stadler damit fast so schnell arbeiten wie ihre Mitarbeitenden. Nur, wenn sie zum Beispiel die überall verteilten WLAN-Sender im Gebäude suchen muss, braucht sie etwas mehr Zeit.
Furchtlos im dichten Verkehr
Und etwas bange ist ihrem Vorgesetzten jeweils, wenn Stadler die viel befahrene Strasse zum Hauptgebäude überqueren muss. Ihren Signalstock benutzt sie nur manchmal in dichtem Verkehr – zum Beispiel, wenn sie mit Bus und Zug über Winterthur bis zum Bahnhof Stadelhofen in Zürich fährt.
Vivien Stadler braucht den weissen Stock nicht, um sich zu orientieren, sondern um als Sehbehinderte erkannt zu werden. „Ich selber habe keine Angst, doch meine Eltern machen sich Sorgen um mich“, weiss die entschlossene junge Frau. In ihrer Freizeit bewegt sie sich gern mit Freunden in der freien Natur – etwa beim Joggen oder Wandern.