Die neue Travail.Suisse Formation-Website wurde mit den Entwickler:innen von MD Systems entwickelt und durch den Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverband SBV getestet. Der Fokus wurde auf Nutzungsfreundlichkeit für alle gelegt. Vor der Aufschaltung der Website tauschten wir uns mit Miro Dietiker von MD Systems sowie Simon Bart (Interessenvertretung) und Luciano Butera (Technik und Innovation) vom SBV darüber aus, warum Barrierefreiheit allen hilft und was es für Weiterbildungsanbietende bedeutet, diese zu integrieren.
TSF hat ja bereits bei ihrer vorherigen Webseite darauf geachtet, ihre Webseite barrierefrei zu gestalten. Warum war es aus eurer Sicht dennoch sinnvoll, die Webseite zu aktualisieren?
Miro Dietiker, MD Systems[1]: Die vorgängige Website war technisch barrierefrei. Für mich als Aussenstehender war es aber auf der alten Website schwierig, die Arbeit und das Angebot von TSF zu verstehen. Mit der Planung der neuen Webseite wurde Barrierefreiheit als Teil einer insgesamt für alle Zielgruppen verständlicheren Kommunikation betrachtet.
Simon Bart, SBV [2]: Uns erschien insbesondere sinnvoll, dass ihr den Prototypen der neuen Webseite bereits zu einem frühen Zeitpunkt von unseren blinden und sehbehinderten Tester:innen habt prüfen lassen. Dieses Vorgehen ist empfehlenswert und spart viel Aufwand für nachträgliche Anpassungen.
Als technische Laiin hatte ich bisher folgende Annahme, von der ich inzwischen denke, dass sie etwas naiv war. Sie lautet: Entwickler:innen, die für Webseiten und deren Updates zuständig sind, achten bei Updates automatisch immer auf Barrierefreiheit. Was sagt ihr dazu und wie sehen eure Prognosen diesbezüglich aus?
Luciano Butera, SBV [3]: Diese Annahme können wir leider nicht bestätigen. Barrierefreiheit kommt in der Ausbildung von Web- und Applikationsentwickler:innen (Lehre und Studium) kaum vor. Immerhin haben Content Management Systeme wie WordPress etliche Fortschritte in Sachen Barrierefreiheit gemacht.
Miro: Die barrierefreie technische Umsetzung ist ein zentraler Punkt, damit der barrierefreie Auftritt gelingt. Viel wichtiger aber erscheint mir eine darüberhinausgehende inklusive Organisationskultur.
Kultur ist ja ein sehr grosser Begriff. Was müsste eine solche beinhalten? Und weshalb reicht es nicht aus, wenn die Technik stimmt?
Miro: Damit meine ich eine grundsätzliche inklusive Haltung, die in allen Arbeitsprozessen Eingang findet. Nur mit einer inklusiven Kultur, die über das Technische hinausgeht, macht Barrierefreiheit meines Erachtens überhaupt Sinn. Es ist beispielsweise wenig zielführend, die technischen Tools zur Verfügung zu stellen, ohne die Designer:innen oder Editor:innen, die für die Inhalte einer Webseite zuständig sind, ins Boot zu holen. Konkret bringt es wenig, wenn die Möglichkeit geschaffen wird, Bilder und Graphiken zu beschreiben (mit vertonbarem Alternativtext), wenn jene, die die Inhalte bearbeiten, die Beschreibungsfelder nicht ausfüllen.
Simon: Dieser Auffassung stimmen wir zu. Das lässt sich mit einem Vergleich aus der baulichen Inklusion illustrieren. So gibt es Organisationen, die viel Geld investieren, um ihre Räume mit Braille-Schrift zu markieren. Doch wenn der Weg zu diesen Räumen nicht mitgedacht wird, der Empfang nicht besetzt ist, oder eine blinde Person schon daran scheitert, den Eingang zum Gebäude zu finden, nützen solche Massnahmen herzlich wenig.
Gibt es öffentlich zugängliche Listen von Informatiker:innen, die Accessibility auf ihre Fahne schreiben im Sinne dieser Annahme?
Simon: Uns sind bis jetzt keine bekannt.
Miro: Einzelne Agenturen bewerben das Thema häufig als (oftmals kostenaufwändige) Zusatzleistung. Die Barrierefreiheit muss meines Erachtens aber integrales Qualitätskriterium von Webseitenprojekten sein und nicht ein zusätzlich zu bezahlender Bonus. Auch in öffentlichen Ausschreibungen gehört Barrierefreiheit konsequent in die Muss- statt lediglich in die Kann-Kriterien. Diese Vorgabe besteht zwar seit 2010 für öffentliche Angebote, wird jedoch bisher ungenügend berücksichtigt.
Wenn eine Weiterbildungsinstitution ihre Angebote für sehbehinderte und blinde Menschen zugänglich machen will, welche Aspekte muss sie bei der Webseite minimal beachten und nötigenfalls anpassen?
Simon: Für Anbietende gilt es sicherzustellen, dass mindestens alle relevanten Anwendungsfälle barrierefrei sind, angefangen von der Startseite inklusive Cookiemeldung, über das Kursprogramm, die Anmeldung bis hin zur Anmeldebestätigung. Für die generelle Zugänglichkeit ist Folgendes wichtig:
1.) die Webseite muss klar und möglichst schlank strukturiert sein
2.) die Inhalte müssen lesbar/erfassbar und nicht nur grafisch sichtbar sein
3.) die Anwendungen müssen ohne Maus, sprich nur mit der Tastatur, bedienbar sein.
Bei Formularen müssen die Felder ohne optische Informationen ausfüllbar sein. Zudem muss zweifelsfrei feststehen, was für die Eingabe jeweils gefragt ist und auch obligatorische Felder müssen als solche gekennzeichnet sein. Blinde und Sehbehinderte noch mehr als alle übrigen Anwender:innen sind darauf angewiesen, dass Fehlermeldungen nachvollziehbar sind. Auch nachgelagerte Prozesse, beispielsweise die Anmeldebestätigung, sind zu beachten.
Luciano: Grundsätzlich gilt: Erst wenn Daten im Netz in der richtigen Form verfügbar gemacht werden, sind sie auch barrierefrei und beispielsweise für Screenreader lesbar. Informationen, die nur optisch vorhanden sind, müssten in den Metadaten bewusst deklariert werden, etwa mit «hier ist eine Überschrift», «das ist eine Aufklappliste», «auf dem Bild sind XY zu sehen».
Miro: Wir empfehlen hier für den Selbstversuch, eine Webseite nur über die Tastatur zu bedienen – z.B. Menu-Navigation, Formulare, oder komplexere Prozesse wie ein Shop-Checkout. Auch sind in macOS, Windows, sowie allen Handys Screenreader vorhanden, die man testhalber aktivieren kann.
Welche Kosten fallen da minimal an?
Simon: Kosten können zunächst durch Tests entstehen, um notwendige Anpassungen zu identifizieren, je separat für Blinde und für Menschen mit einem Sehrest. Je nach Ausmass der notwendigen Anpassungen muss mit weiteren Kosten gerechnet werden, die nicht pauschal beziffert werden können. Und ich wiederhole: Je früher bei der Entwicklung Barrierefreiheit berücksichtigt wird, desto geringer fallen die Kosten aus.
Miro: Das kann ich bestätigen. Mit Accessibility als Muss-Kriterium und einem vertraglichen Commitment können Mängel ohne Mehrkosten gerügt werden. Bei uns entstehen viele derartigen Projekte, welche von Grund auf barrierefrei sind. Wenn man auf eine formale Zertifizierung verzichtet, entstehen minimale oder keine Mehrkosten.
Ist es immer notwendig, dass Webseiten auf ihre Barrierefreiheit geprüft werden? Welche geeigneten Prüfstellen empfehlt ihr zu diesem Zweck?
Miro: Wichtig ist, dass die wichtigsten Aspekte laufend während der Umsetzung geprüft und behoben werden. Sonst entstehen teure Schleifen über Reports von offensichtlichen Fehlern, die in wenigen Minuten hätten behoben werden können. Bei Unsicherheit lohnt es sich, auch einen Prototypen auf Accessibility zu validieren, bevor man in die Detail-Umsetzung geht.
Luciano: Auch wenn die Faustregeln eingehalten werden, empfehlen wir eine praktische Prüfung durch betroffene Anwender:innen. Als Prüfstelle gut etabliert ist «Zugang für alle», die sie sich auf die technische Prüfung aus Sicht von unterschiedlichen Behinderungsarten konzentrieren. Auch der SBV prüft Webseiten aus Sicht von Blinden und Sehbehinderten, wobei wir nebst der technischen Prüfung auch den Workflow und die relevanten Anwendungsfälle anschauen und alle Beteiligten auf diese Weise nachhaltig sensibilisieren.
Auf welche weiteren Aspekte der Accessibility ist zu achten, wenn man auch Menschen mit anderen Beeinträchtigungen ansprechen möchte, namentlich Menschen mit einer Hörbeeinträchtigung?
Miro: Für Hörbehinderte sind Untertitel von Videos wichtig. Youtube beispielsweise bietet bereits automatisierte Hilfsmittel an. Die automatisch generierten Untertitel erleichtern die Arbeit wesentlich, müssen aber häufig noch korrigiert werden.
Nur wenige Captcha-Lösungen (zum Schutz gegen Formular-SPAM) können von Menschen mit kombinierter Seh- und Hörbeeinträchtigung bedient werden. Als Lösung bietet sich hier beispielsweise das hCaptcha: Benutzer können sich via E-Mail registrieren, wodurch das Captcha dann überall verschwindet.
Zudem empfehlen wir im Sinne einer generell inklusiven Kommunikationskultur den Einsatz von einfach verständlicher Sprache. Diese Anpassung, bei der beispielsweise auf Abkürzungen und Fremdwörter verzichtet wird, kommt allen Nutzenden zugute.