Travail.Suisse Formation will gehörlosen und hörbehinderten Menschen einen besseren Zugang zu Weiterbildungen ermöglichen. Zwei Fachpersonen des Schweizerischen Gehörlosenbundes erklären, was die Betroffenen sich vom Projekt erhoffen.
Mit ihrem neuen Projekt will Travail.Suisse Formation den Zugang zu Weiterbildungen für gehörlose und hörbehinderte Menschen verbessern. Wo sehen Sie den grössten Handlungsbedarf?
Thomas Schmidt: Die Bildungsinstitutionen brauchen mehr Informationen für den Umgang mit Gehörlosen und Schwerhörigen und deren Bedürfnissen. Hilfreich wäre zum Beispiel vor jedem Kurs ein Gespräch mit den Beteiligten, im Falle von Gehörlosen im Beisein einer Gebärdendolmetscherin. Auch Unterstützung beim Antrag sowie der Korrespondenz mit der IV würde ich schätzen.
Braucht es für jede Weiterbildung einen IV-Antrag?
Amrei Gerdes: Ja, denn im mündlichen Unterricht benötigen gehörlose Menschen eine Übersetzung in Gebärdensprache. Ein Gesuch bei der IV kostet stets viel Aufwand und Energie. Die Betroffenen fühlen sich häufig der Willkür der IV-Vertreter:innen ausgeliefert.
Schmidt: Oft wird einem das Gefühl vermittelt, man müsse sich für seine Situation rechtfertigen. Das ist unangenehm. Schliesslich haben alle ein Recht auf Bildung.
Heutzutage eignet man sich immer mehr im Selbststudium anstatt mit Frontalunterricht. Erleichtert dies die Situation für hörbehinderte Menschen?
Schmidt: Zum Teil. Gleichzeitig werden Elemente wie Gruppenarbeiten, Diskussionen und Interaktionen wichtiger. Daran möchten wir gleichberechtigt teilnehmen. Sonst sind wir beim Lernen benachteiligt. Im Präsenz-Unterricht (ob digital oder vor Ort) brauche ich als Gehörloser zwingend eine Gebärdenübersetzung.
Würde ein besserer Zugang zu Bildung und Weiterbildung auch die beruflichen Chancen verbessern?
Gerdes: Es könnte sicher dazu beitragen. Ein besserer Zugang zur Weiterbildung würde die beruflichen Chancen erweitern. Die Arbeitslosigkeit liegt bei gehörlosen Menschen drei- bis viermal höher als bei der durchschnittlichen Erwerbsbevölkerung. Dies liegt aber nicht nur am mangelnden Zugang zu Weiterbildungen, sondern auch an Unwissen und Angst vor Mehraufwand seitens der Arbeitgebenden.
Welche Berufe eignen sich besonders gut für hörbehinderte Menschen und welche weniger?
Gerdes: Berufe, die gehörlosen und hörbehinderte Personen in der Vergangenheit verwehrt worden sind, werden immer weniger. Heutzutage arbeiten gehörlose und hörbehinderte Menschen in verschiedenen Funktionen und Branchen. Sie verfügen über Fähigkeiten und Know-How, die genauso vielfältig sind wie die von (gut-)hörenden Menschen und sollten somit einen Beruf ausüben dürfen, der ihren Wünschen entspricht.
Herr Schmidt, wie haben Sie Ihren eigenen Bildungsweg erlebt?
Schmidt: Ich habe einen normalen Kindergarten besucht. Die Grundschule habe ich danach innerhalb von 11 Jahren an der Schwerhörigenschule Landenhof absolviert. Damals war die Gebärdensprache im Unterricht nicht erlaubt. Der Schwerpunkt lag auf dem Erlernen des Artikulierens. Ich habe den Eindruck, dass dadurch bereits meine Grundbildung lückenhaft war. Eine Matura zu machen, war damals schwierig.
Wie ist Ihr beruflicher Werdegang danach verlaufen?
Schmidt: Ich habe eine KV-Lehre bei der UBS gemacht, während der ich die ganze Zeit von den Lippen ablas und direkt kommunizierte. Das war anstrengend. Oft war ich derart mit dem Verstehen des Gesagten absorbiert, dass ich die Informationen nicht gleichzeitig verarbeiten konnte. Nach einer kurzen Zeit auf der Bank wechselte ich in den IT-Bereich. Ich eignete mir die Kenntnisse dafür ohne Gebärdensprachübersetzung an. Nach 15 Jahren in dieser Branche verspürte ich den Wunsch nach mehr Kontakt mit Menschen und wechselte in den Non-Profit-Bereich. Ich habe verschiedene Male die Stelle gewechselt. Meine Karriere ist mehr in die Breite statt in die Höhe verlaufen. Das hatte sicher teilweise auch mit meinem eingeschränkten Zugang zur Bildung als Gehörloser zu tun.
Gibt es auch Aspekte, die sich in den letzten Jahren für hörbehinderte Menschen verbessert haben?
Schmidt: Ja, sicher. Zum Beispiel stehen immer mehr Gebärdensprach-Dolmetschende zur Verfügung, die auch häufiger eingesetzt werden. Zudem ist die Sensibilisierung von hörenden Personen vorangeschritten – wenn auch noch nicht ausreichend. Aktuell absolviere ich eine Weiterbildung in Verbandsmanagement. Hier habe ich sehr gute Erfahrungen gemacht. Zu Beginn gab es für alle ein Kennenlerntreffen, mit Vorstellungsrunde und Apéro. Durch den direkten Kontakt mit den Mitstudierenden sanken die Berührungsängste. Mein Ansprechpartner, zum Beispiel für Fragen zum Nachteilsausgleich, ist der Schuldirektor persönlich. Zudem erhalte ich für sämtliche Lektionen eine Übersetzung in Gebärdensprache.
Was für Erwartungen hat der SGB-FSS ans Projekt von TSF?
Gerdes: Wir hoffen, dass das Projekt dazu beiträgt, die Willkür bei der IV zu reduzieren. Weiter versprechen wir uns, dass viele Weiterbildungsinstitutionen den Leitfaden, der erarbeitet wird, anwenden werden. Und vor allem wünschen wir uns, dass das Bewusstsein für die Bedürfnisse von gehörlosen hörbehinderten Menschen in der ganzen Bevölkerung steigt.
Ein Projekt im Auftrag des Bundes
Gemäss dem Weiterbildungsgesetz (WeBiG) sollen Menschen mit Behinderungen die gleichen Chancen beim Zugang zur Weiterbildung haben wie Menschen ohne Behinderungen (Art. 8b WeBIG). Zu diesem Zweck hat das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) mit Travail.Suisse Formation (TSF) eine Leistungsvereinbarung für die Periode 2021-2024 abgeschlossen mit dem Auftrag, den Zugang von gehörlosen und hörbehinderten Menschen zur öffentlichen Weiterbildung zu verbessern. In einem ersten Schritt sollen mittels Experteninterviews die Bedürfnisse der Zielgruppe erfasst werden. Geplant ist zudem ein Workshop, in dem sich Menschen der involvierten Organisationen begegnen. Darauf basierend werden Empfehlungen zuhanden der Weiterbildungsinstitutionen formuliert. Fester Partner des Projekts ist der Schweizerische Gehörlosenbund SGB-FSS.
Von 2017 bis 2020 hat TSF ein vergleichbares Projekt zugunsten von blinden und sehbehinderten Menschen durchgeführt. Daraus resultierte unter anderem ein Leitfaden, der Weiterbildungsinstitutionen bei der Inklusion unterstützt.
Die neue Leistungsvereinbarung ist unter Downloads sowie beim SBFI öffentlich einsehbar.