Er weist eine Bildungs- und Berufslaufbahn vor, wie sie für die Generation Y exemplarisch ist. So bedeutet eine Erstausbildung noch lange nicht, dass man jahrzehntelang ein und denselben Beruf ausüben muss. Was Timon Nyfeler jedoch von vielen seiner Peers unterscheidet, ist die Tatsache, dass er beidseitig hochgradig schwerhörig ist. In dieser Hinsicht ist seine Laufbahn alles andere als typisch, denn jeder Wechsel bedeutete für ihn einen enormen Mehraufwand.
Timon Nyfeler, 28 Jahre alt, ist seit Geburt hochgradig schwerhörig. Dennoch besuchte er bis zum 9. Schuljahr die öffentliche Schule. Daraufhin absolvierte er eine Ausbildung als Sanitärinstallateur und eine Berufsmatur an der Berufsfachschule für Lernende mit Hör- und Kommunikationsbehinderung BSFH. Nach einem Zwischenjahr mit Temporär- und Aushilfejobs sowie als Allrounder beim Gurtenfestival, liess er sich an einem öffentlichen Weiterbildungsinstitut zum Fitness-Instruktor ausbilden und arbeitete zwei Jahre auf diesem Beruf. Und zurzeit absolviert er ein Praktikum in Sozialer Arbeit an der Beratungsstelle für Schwerhörige und Gehörlose Bern. Daneben schliesst er gerade einen Bachelor in Sozialer Arbeit an der Fachhochschule Nordwestschweiz ab.
Wenn Timon von seinem Bildungsweg erzählt, scheint dieser sich im ersten Moment ganz einfach und natürlich für ihn zusammengefügt zu haben; schliesslich ist er dabei jedes Mal seiner eigenen Motivation gefolgt. Erst bei genauerem Hinsehen wird deutlich, wie viel er dafür tun musste und muss.
Hören mit Hörgeräten oder -Implantaten ist nicht gleich Hören
Wie seine Kommiliton:innen folgt Timon Vorlesungen in grossen Auditorien, zumindest wenn die Pandemie diese Präsenzveranstaltungen nicht verunmöglicht. Die Tatsache, dass er auf beiden Ohren mit Hörgeräten ausgestattet ist, heisst jedoch nicht, dass er damit alles genauso hört, wie «normal» hörende Menschen. Stattdessen ist sein Hörvermögen dennoch eingeschränkt und Geräusche verschiedener Art gelangen ungefiltert gleichzeitig in seine Ohren. Damit er den Dozierenden angesichts dessen folgen kann, benötigt er verschiedene Hilfsmittel.
Hilfsmittel Schriftdolmetschen
Einige FHNW-Säle verfügen über eine Induktionsleitung. Diese ermöglicht eine Direktverbindung mit dem Mikrofon der Dozierenden, so dass die vorgetragenen Informationen besser in Timons Ohren gelangen. Darüber hinaus lässt Timon die gesamten Vorlesungen von der Firma Swiss TXT live schriftdolmetschen. Hierbei wird der Ton aus dem Klassenraum drahtlos über den Computer an die Schriftdolmetscher:innen gesendet, die den gesprochenen Text zusammenfassen und verschriftlichen (transkribieren). Auch Pro Audito Schweiz bietet Schriftdolmetschen online oder präsent vor Ort an. Timon kann den Text mit einer kurzen Verzögerung direkt auf seinem Tablet mitlesen, so dass er gesprochene und geschriebene Sprache verknüpfen und gleichzeitig sicherstellen kann, dass das Gesagte festgehalten wird für die Nachbearbeitung. Das Schriftdolmetschen ist kostenpflichtig. Timon musste vorgängig bei der IV-Stelle eine Finanzierung dafür beantragen, was recht aufwändig war. Dieser Antrag stellt für viele Betroffene eine grosse Hürde dar. Beratungsstellen für Schwerhörige und Gehörlose unterstützen Betroffene dabei kostenlos.
Hemmnisse abbauen und empowern
Auch wenn sein Weg sehr beeindruckend ist, so gesteht Timon ein, dass er einigen Mehraufwand hatte, um sich weiterzubilden. Zudem ist die Teilnahme an Weiterbildungen für ihn als Schwerhörigen sehr ermüdend, da er sich stets um ein Vielfaches auf alle visuell verfügbaren Reize konzentrieren muss.
Dennoch ist es ihm wichtig, seine Mitmenschen mit einer Hörbehinderung trotz dieser Hürden zu ermutigen. «Wenn man will, dann ist grundsätzlich alles – oder zumindest fast alles – möglich», so sein Motto.
In der Schweiz leben rund eine Million Menschen mit einer Hörbehinderung. Statistisch gesehen weisen sie eine grössere Arbeitslosenquote als die hörende Bevölkerung auf. Sie nehmen auch weniger an Weiterbildungen teil. Damit sich das ändert, müssen gemäss Timon einerseits die Betroffenen selbst ihre Hemmungen abbauen und gewillt sein, ihre Weiterbildungswünsche in Tat umzusetzen. Gleichzeitig gilt es auch, die Weiterbildungsinstitutionen in Bezug auf Kommunikationsgrundlagen in der Arbeit mit Hörbehinderten zu sensibilisieren.
Kommunikationsgrundlagen für Weiterbildungsinstitute
Timon schlägt unter anderem folgende leicht umsetzbaren Anpassungen vor:
- Bei einer längeren Ausbildung kann ein vorgängiges Gespräch beidseitig viele Fragen und Unsicherheiten klären und eine gemeinsam erarbeitete «Strategie» kann während der Ausbildung für einen fliessenden Ablauf sorgen.
- Es ist gut, wenn vorgängig Fragen via Mail behandelt werden können und eine Unterstützung bei der Anmeldung angeboten werden kann. Dabei ist es sinnvoll, auf einfache oder leichte Sprache zurückzugreifen, da der vorhandene Wortschatz von vielen Hörbehinderten und Gehörlosen es ihnen erschwert, lange und komplizierte Formulierungen zu verstehen. Dies betrifft vor allem Personen mit Gebärdensprache als Muttersprache, da diese eine andere Grammatik und ein kleinerer Wortschatz hat. Leichte und einfache Sprache sind überdies generell für viele potentiellen Teilnehmenden von grossem Nutzen.
- Es ist wünschenswert, dass Unterlagen vorgängig zugestellt werden, damit die Betroffenen sich besser vorbereiten können.
- Wenn Aufträge erteilt werden, sollten diese schriftlich und mündlich formuliert werden, damit sichergestellt wird, dass diese auch verstanden werden.
- Geschätzt wird zudem, wenn die Kursleitenden auch nach dem Unterricht oder in der Pause zur Verfügung stehen, damit Verständnisfragen bilateral geklärt werden können.
Informationen zu Schriftdolmetschen:
- mit Swiss TXT: https://www.swisstxt.ch/de/services/accessibility/online-schriftdolmetschen/
- Mit Pro Audito: https://www.pro-audito.ch/was-wir-tun/schriftdolmetschen/