Lernen mit schwachen Augen
Für den KV-Unterricht braucht Leonie Meyer* spezielle Hilfestellungen. Nun steht Schulen ein neuer Leitfaden zur Verfügung, den Travail.Suisse Formation für die Ausbildung blinder und sehbehinderter Menschen erarbeitet hat.
Bild: Ein Satellitenbild anschauen im Unterricht; auch für Leonie Meyer ist das trotz Sehschwäche möglich.
Als Einstieg in die Wirtschafts-Lektion hat der Lehrer ein Satellitenbild gewählt. Es zeigt die koreanische Halbinsel bei Nacht – im Norden fast alles dunkel, im Süden hell erleuchtete Regionen. Anhand dieser Darstellung sollen die Schülerinnen und Schülerinnen verschiedene Wirtschaftssysteme kennen lernen: Von der freien Marktwirtschaft über die Planwirtschaft bis zur sozialen Marktwirtschaft.Während die anderen Schülerinnen und Schüler der Handels- und Hotelhandelsschule Minerva in St. Gallen das auf die Wand projizierte Bild betrachten, hat Leonie Meyer* es auf einem Bildschirm an ihrem Pult vor sich. Denn die 24-Jährige hat eine starke Sehschwäche. Seit Geburt sieht sie auf beiden Augen nur etwa 10 Prozent. Im Alltag merkt man ihr diese Beeinträchtigung kaum an. Wenn sie sich in der Stadt und im Schulgebäude bewegt, wirkt sie zielstrebig und sicher. Doch im Unterricht ist sie auf spezielle Hilfsmittel angewiesen. Die meisten Dokumente liest sie auf Ihrem Tablet in stark vergrösserter Form oder benutzt ein Vorleseprogramm. „Als Jugendliche lehnte ich den Computer in der Schule ab, weil ich nicht anders sein wollte“, erzählt die junge Frau. Meist sass sie im Schulzimmer zuvorderst und lernte mit Kopien in A3-Format oder benutzte Lupen. So konnte sie während der gesamten obligatorischen Schulzeit reguläre Schulen besuchen.
Praktikumsort beschäftigt sie weiter
Danach lernte sie Hotelfachfrau, kam dann aber zum Schluss, dass sich der Beruf mit einer Sehbehinderung wenig eignete. Meyer arbeitete darauf in einer Wäscherei, was wegen Hautproblemen ebenfalls schwierig wurde. Gemeinsam mit Fachpersonen der IV entschied sie sich, das KV nachzuholen. Das erste Schuljahr sowie das Praktikumsjahr bei der St. Galler Tourismus-Information hat sie bereits erfolgreich abgeschlossen. „Es hat tipptopp funktioniert. Ich konnte selbstständig arbeiten“, freut sich Meyer. Während des dritten Schuljahrs ist sie dort weiterhin mit einem 30-Prozent-Pensum beschäftigt. Die meisten Dozenten an der Minerva seien sehr bemüht, ihr entgegen zu kommen, sagt Meyer. Sie schicken ihr die Dokumente jeweils im Voraus in digitaler Form. Seit dem Homeschooling während der Pandemie seien sowieso immer mehr Unterlagen online.
Mehr Zeit für Prüfungen
Für die Lehrpersonen sei der Aufwand vertretbar, findet Wirtschaftsdozent Marcel Peier. Manchmal arbeite er mit alten Dokumenten die er nun für seine sehbehinderte Schülerin digitalisieren muss. An der Minerva sei man sich schon ein wenig gewohnt an Schülerinnen und Schüler mit Beeinträchtigungen. „Wir sind etwas kleiner als andere Schulen. Somit können wir besser auf besondere Bedürfnisse eingehen.“ Am häufigsten sind Diagnosen wie ADHS, Autismus-Spektrum-Störungen sowie Depressionen.
Peier hat früher auch schon mal einen vollständig blinden Schüler unterrichtet. Da sei die Herausforderung grösser gewesen als bei Leonie Meyer, die sich hauptsächlich visuell orientiert. Damals musste der Lehrer Texte im Voraus zur Überführung in ein auditives Format in Auftrag geben und sämtliche Darstellungen im Unterricht mit Worten beschreiben. „Bilder und Visualisierungen sind wichtig, um den Stoff zu verinnerlichen“, betont Peier. Diese didaktische Chance könne er den anderen Schülern nicht vorenthalten.
Nicht ganz einfach umzusetzen sei manchmal auch der Nachteilsausgleich, sagt Peier. Meyer hat bei Prüfungen stets 30 Prozent mehr Zeit zur Verfügung. Bei einer Online-Prüfung muss das Zeitfenster für sie speziell programmiert werden. Und an der Schule brauchen beeinträchtigte Personen meist ein separates Zimmer, damit die anderen bereits weiterarbeiten können. Dann müsse er aber wiederum darauf achten, dass diejenigen mit der verlängerten Prüfungszeit nichts Wichtiges verpassen, erklärt Peier.
Unkomplizierte Lösungen suchen
Bei den meisten Dozierenden sei viel Offenheit und Goodwill vorhanden gegenüber Menschen mit Beeinträchtigungen, sagt auch Schulleiter Marco Julita. «Wir gehen die Situationen relativ unkompliziert und pragmatisch an.» Wichtig sei der direkte Bezug zu einer Klassenlehrperson, welche die besonderen Bedürfnisse erfragt und nach Lösungen sucht. Je nach Standort seien jedoch bei körperlichen Behinderungen Grenzen gesetzt, räumt Julita ein. Weil die Minerva in gemieteten Gebäuden unterrichtet, sind bauliche Anpassungen schwierig. Als Privatschule, die ohne öffentliche Gelder auskommen muss, habe man zudem nicht die Mittel, spezialisierte Personen einzustellen oder in die Infrastruktur zu investieren. Der Schulleiter ist deshalb froh um die von Travail.Suisse Formation erarbeitete Kriterienliste für das Unterrichten blinder und sehbehinderter Menschen. «Dieser Leitfaden ist bestimmt hilfreich.»
Leonie Meyer erhält während der Ausbildung Taggelder von der IV. Nach den guten Erfahrungen im Praktikumsjahr ist sie jedoch zuversichtlich, dass sie ihren Lebensunterhalt nach dem Abschluss selber wird verdienen können. Auch im Alltag bewegt sich die junge Frau sehr selbstständig: Von Goldach aus, wo sie mit ihrem Freund wohnt, nimmt sie täglich den Bus nach St. Gallen. Nur manchmal muss sie andere Menschen nach der Busnummer fragen. «Ich habe mir schon überlegt, einen weissen Stock bei mir zu tragen, damit die anderen meine Sehbehinderung erkennen», sagt Leonie Meyer. Mit diesem Schritt tut sie sich jedoch noch etwas schwer.