Es braucht von beiden Seiten Mut
Belinda Pfister und Laura Setz sind zwei Frauen, die entschlossen und engagiert ihren beruflichen Weg gehen – trotz der Hürden, die ihre Hörbeeinträchtigung immer wieder bedeutet. Beide wollen andere Betroffene motivieren und ihnen Mut machen.
Wenn Belinda Pfister erzählt, sprudelt sie wie ein Wasserfall. „Ich kann verstehen, dass es schwer nachzuvollziehen ist, wie gut eine Person hört. Erst kürzlich meinte mein Arbeitskollege zu mir: ‚Es ist umso schwerer, weil du so gut sprichst.‘ Ja, man merkt es mir eben nicht an“, lacht die 33-Jährige.
Dabei hört sie auf dem rechten Ohr gerade mal ungefähr 20 Prozent, auf dem linken Ohr gar nichts. Und das seit ihrer Geburt, obschon die Beeinträchtigung erst festgestellt wurde, als sie vier Jahre alt war. Die genaue Ursache dafür kennt selbst sie erst seit wenigen Jahren dank Untersuchungen durch einen Spezialisten. Seither trägt sie auch ein sogenanntes Cochlea Implantat, das ihre Hörfähigkeit links auf ca. 30 Prozent steigert. Rechts sorgt ein Hörgerät für eine Hörfähigkeit von ungefähr 80 Prozent.
Durchbeissen bis zum Burnout
Laura Setz hingegen war hochgradig schwerhörig und ist seit einem Gehörsturz vor sieben Jahren gehörlos. Wenn sie über ihren schulischen Weg nachdenkt, spricht sie immer wieder von einer Gratwanderung. Einer Gratwanderung zwischen dem Wunsch einerseits, ihre Träume zu verwirklichen und dafür auch bereit zu sein, sich «durchzubeissen». Und andererseits der Frage, wann die Anstrengung einfach zu gross ist, weil adäquate Hilfestellungen fehlen.
Schon zweimal führte diese Gratwanderung in ein Burn-out: Das erste Mal, nachdem sie in Deutschland vier Jahre lang ein Internat besucht und das Abitur gemacht hatte. Für diesen Schritt hatte sie sich entschieden, weil sie unbedingt einen Maturitätsabschluss machen wollte, was aufgrund ihrer Gehörlosigkeit hierzulande am Gymi nicht möglich war.
Mit dem zweiten Burn-out musste Laura Setz sich von ihrem Traum verabschieden, Sportlehrerin zu werden. Im zweiten Semester entschied sie sich, das Studium an der Universität Basel abzubrechen. Sie räumt ein: „Man fragte mich schon, was ich denn brauche. Aber irgendwie wusste ich nicht, was ich sagen darf. Ich dachte, dass ich einfach mehr leisten muss.“
Zugleich geht es Laura Setz ähnlich wie Belinda Pfister. Auch ihre Beeinträchtigung werde oft unterschätzt, sagt die 30-jährige Aargauerin: „Weil ich so gut von den Lippen ablesen kann und eine gute Sprachkompetenz habe, nehmen die Leute meine Gehörlosigkeit oft nicht wahr.“
„Einfach mal fragen: Was brauchst du?“
Beide haben durch ihre Erfahrungen gemerkt, wie wichtig es ist, die Hörbeeinträchtigung anzusprechen. „Ich wollte nie den Stempel haben, hörbehindert zu sein“, erklärt Belinda Pfister. „Und ich wollte auch nicht bevorzugt oder besonders behandelt werden. Aber dadurch kam es auch immer wieder zu Missverständnissen. Also musste ich mir eingestehen, dass es besser ist, wenn ich es sage.“
Auch Laura Setz, die in diesem Jahr ihren Bachelor in Physiotherapie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW abschliesst, kommuniziert ihre Bedürfnisse heute aktiv: „Wenn ich mit Patient:innen arbeite, lese ich von den Lippen ab. Das ist anstrengend und erfordert permanente Präsenz und Konzentration. In meinem letzten Praktikum habe ich darum von Anfang an gesagt, dass ich pro Tag maximal sechs Patient:innen behandeln kann.“
Um hinzustehen und die eigenen Möglichkeiten und Grenzen offen anzusprechen, braucht es Mut und Selbstbewusstsein. Genauso mutig sollten aus Sicht von Belinda Pfister aber auch die Menschen sein, die normal hören, gerade auch im Umgang mit Mitmenschen mit Hörbehinderung: „Einfach mal zu fragen: Was brauchst du? Wie kann ich dir helfen? Das fände ich mega schön.“ Oft verhindert die eigene Unsicherheit diesen Schritt.
Belinda Pfister ist nach ihrer Ausbildung zur Dipl. Tourismusfachfrau und verschiedenen beruflichen Stationen heute als Customer Care Manager bei AXA Mobility Services AG tätig. Sie freut sich, dass sie im Kontakt mit Kund:innen die vier Sprachen, die sie spricht, auch anwenden kann. Ausserdem hat sie sich nebenberuflich erfolgreich als Polefitness-Trainerin selbstständig gemacht. Auch das braucht Mut. „Aber wo ein Wille ist, ist auch ein Weg“, sagt sie entschlossen.
Geeignete Settings ausloten
Mit Blick auf ihre Weiterbildungen (Bachelor in Business Administration und CAS Customer Experience) empfindet die Bündnerin Online-Angebote – im Vergleich zu Präsenzunterricht – für sich selbst als einfacher, weil sie dann mit Kopfhörern und ComPilot, einem Gerät, das ihr Hörgerät über Bluetooth mit dem Computer verbindet, arbeiten kann. Im Klassenraum setzt sie sich konsequent in die erste Reihe.
„Ideal wäre, wenn bei einer Weiterbildung alle Lehrkräfte direkt über unsere Bedürfnisse informiert würden“, findet Belinda Pfister. So können diese auch aktiv der Klasse vermitteln, was es zu beachten gilt: Dass zum Beispiel alle laut und deutlich sprechen, dass sie sich jeweils zur Person mit der Hörbeeinträchtigung umdrehen und dass sie beim Sprechen auch gestikulieren.
Dolmetschdienste und technische Hilfsmittel finanziert die Invalidenversicherung (IV) auf entsprechende Antragsstellung. In ihrem aktuellen Studium hat Laura Setz Anspruch auf Verdolmetschung in Gebärdensprache. Damit wird eine gleichwertige Teilnahme möglich. Es sei jedoch sehr aufwändig gewesen, die Kostenübernahme dieser Dienstleistung zu erlangen. Sie regt an, dass die Abläufe und die Unterstützung in diesem Prozess künftig verbessert werden, zum Beispiel durch eine Fachstelle für hindernisfreies Lernen und Arbeiten. Diese könnte auch dem grossen Spektrum individueller Bedürfnisse bei Gehörlosen und Schwerhörigen gerecht werden.
„Es gibt so viele tolle Weiterbildungsangebote, aber durch meine Vorerfahrungen bin ich ein bisschen zurückhaltend“, gibt Laura Setz zu. Und ergänzt: „Auch von anderen höre ich immer wieder, dass sie eine Aus- oder Weiterbildung abbrechen oder nach einem Abschluss sagen: ‚Nie wieder!‘, weil es an Unterstützung und Sensibilisierung fehlt. Ich wünsche mir für alle Betroffenen, dass sie mehr Mut haben und die ihnen zustehende Unterstützung einfordern. Wir sind ein Teil der Gesellschaft und können sehr viel beitragen.“
Der gemeinsame Austausch über Erfahrungen, Learnings und Praxistipps ist für Betroffene wichtig. Genauso braucht es aber auch den Austausch zwischen Weiterbildungsinstitution und Betroffenen sowie zwischen Lehrkräften, Mitstudierenden und Betroffenen. Und es braucht den Mut von allen Beteiligten, aufeinander zuzugehen, um das bestmögliche Setting zu schaffen.
Autorin: Bettina Bichsel, Dipl. Journalistin, Coach und Seminarleiterin beim Bildungsinstitut ARC
Interviews: Daphna Paz, Projektleitung TSF